Von Silke Nierfeld | 19.04.2024 | Lesezeit ca. 5 Minuten

Integrales Denken ist multiperspektivisch

In­te­gral bezeichnet die sieb­te Stufe des Ent­wick­lungs­mo­dells Spi­ral Dy­namics. In­te­gra­le Den­ker zeich­nen sich durch ei­ne wach­sen­de Pers­pek­tiv­fäh­ig­keit, In­te­gra­tions­be­reit­schaft, Flexi­bi­li­tät und kon­struk­ti­ven Um­gang mit Kom­plexi­tät aus. 

Ein integraler Denker entwirrt Gegensätze, die durch schwarze und weiße Fäden symbolisiert werden.

Die Integrale Theorie

Wikipedia vermerkt zur Integralen Theorie: „Die Integrale Theorie ist ein systematisches Modell für eine holistische, kosmisch-evolutionäre Welterklärung ohne materialistische Reduktion, sondern unter Einbeziehung der Eigenart und Wirksamkeit des Geistigen im Kosmos.“

Heute wird der Begriff integral meist mit Ken Wilber in Verbindung gebracht. Er hat das Modell Spiral Dynamics in seine integrale Theorie integriert und später abgewandelt, sodass es viel Verwirrung bezüglich der Modelle gibt. Die Begriffe metamodern und teal bedeuten in etwa dasselbe wie die integrale, siebte Ebene des originalen Modells Spiral Dynamics, um die es in diesem Artikel geht.

Inzwischen gibt es eine ganze Generation von integralen Denkern, die die Theorie auf verschiedene Disziplinen anwenden und integrales Denken weiterentwickeln. Die Grundbegriffe der Integralen Theorie können hier heruntergeladen werden. 

Die Wirksamkeit von WMemen

Die von Spiral Dynamics beschriebenen WMeme oder Weltsichten, sind un­per­sön­lich­e Sys­te­me und Struk­tur­en (z. B. kul­tu­rel­le Hin­ter­grün­de, sprachliche Struk­tu­ren, Be­wusst­seins­struk­tu­ren). Sie beeinflussen unbemerkt die Wahr­neh­mung und das Be­wusst­sein der Menschen.

Es handelt sich um in­ter­sub­jek­ti­ve Re­ali­täten, die weder durch Re­flex­ion noch durch In­tro­spek­tion (z. B. Me­di­ta­tion)  im eigenen Denken auf­gedeckt werden können. Nur die Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen ermöglicht es, sie zu erkennen.

Die neun Weltsichten oder WMeme laut Spiral Dynamics

Integrale Denker (gelb) sind in der Lage, diese Strukturen zu erfassen, da ihr Denken abstrakter wird. Sie können größere geistige Zusammenhänge erkennen, weil ihr Fokus nicht mehr auf der Erzielung persönlicher Vorteile liegt, wie es beim rationalen Denken der Fall ist. 

Schaulogik – die Denkstruktur des Integralen

Schaulogik bedeutet, verschiedene Perspektiven wertzuschätzen und gleichzeitig dem eigenen Wertesystem treu zu bleiben. Im integralen Vokabular wird dies als Aperspektivität bezeichnet. Die Schaulogik ist eine dialogische, dialektische und netzwerkorientierte Denkstruktur. 

Gelb ist die Stufe, die integral-aperspektivisch denkt. Sie durchbricht nicht nur das Muster des Rechthaben-Wollens, sondern ist in der Lage, die Konstruktionen der ersten sechs Entwicklungsstufen zu erkennen. Sie ist imstande, ihr eigenes Verhalten entsprechend anzupassen, was zu effektiven Lösungen führt.

[Integrale Führung ist nicht die ultimative Lösung, als die sie gepriesen wird. Sie verhilft Menschen nicht dazu, Einsicht in die Strukturen zu bekommen, die sie unbewusst steuern. Es ist eine Fortsetzung der kollektiven Illusion, das Leben rational steuern zu können. ]

Die Vorteile integralen Denkens

Integrale Denker sind prinzipientreu und haben eine starke ethische Verankerung. Da sie die Zwänge und Ängste der vorhergehenden Stufen überwunden haben, verfügen sie über größere Freiheitsgrade im Denken und Handeln. Diese Stufe ist in der Menschheitsgeschichte noch sehr jung (Anteil vielleicht 1–2 % in der westlichen Welt). 

Integrales Denken ist systemischkalaidoskopisch und immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten. Die mentale Flexibilität des integralen Denkers ist bemerkenswert. Er ist in der Lage, jederzeit und von allem zu lernen und sein Verhalten zu variieren. Dabei findet er Muster, Lücken und klare Wege in komplexen Situationen. 

Im Endeffekt wird komplexeres Denken weniger komplexes ausstechen, weil es höhere Freiheitsgrade im Umgang mit den veränderten Umständen erlaubt.

Clare W. Graves

Die Nachteile integralen Denkens

Alle bisher beschriebenen Eigenschaften des integralen Denkens lösen Probleme konstruktiv. [Second-Tier Denken würde bedeuten, zu durchschauen, welche mentalen Konstrukte die Probleme erzeugen und sie dadurch aufzulösen.] Integrale Denker machen sich ständig Gedanken über sich selbst und ein funktionierendes Wir. Darüber, ob Dinge notwendig sind und wie Prozesse verbessert werden können. Sie beobachten und priorisieren innere Stimmen und deren Bedürfnisse, Gefühle und Intuitionen.

Die Kopflastigkeit und ein ausgeprägtes Selbstwertgefühl machen integrale Denker nicht immer zu angenehmen Zeitgenossen. Ihr blinder Fleck ist die Ich-Identifikation, die die Transformation zum tatsächlichen Second-Tier Denken verhindert, das jenseits des Mentals stattfindet.

Ist die integrale Ebene Second-Tier?

Spiral Dynamics beschreibt Second-Tier als einen höheren Rang des Denkens, als geistiges Bewusstsein. Das gelbe, integrale WMeme wird zur ersten Stufe des Second-Tier Ranges erklärt.

Integrales Denken ist die Ausrichtung auf höhere Ebenen des Bewusstseins mit einem neuen Freiheitsgrad der Multiperspektivität. Der Sprung vom Absolutheitsanspruch des ersten Ranges zur Offenheit und Aperspektivität der gelben Stufe ist gewaltig. Und doch handelt es sich nur um eine Vorstufe geistigen Bewusstseins, man nennt es die Anwartschaft auf das spirituelle Adeptentum. Die Voraussetzungen für spirituelle Schülerschaft werden noch nicht erfüllt.

Integrales Denken ist Selbstverwirklichung auf der Persönlichkeitsebene. Second-Tier Bewusstsein setzt die Transformation des Persönlichen voraus, weil das Geistige untrennbar ist. An dieser Stelle gibt es keine Ambivalenz oder Übergänge. Das Ich-Bewusstsein muss sich auflösen, damit der nächste Rang erreicht wird – und dieser Vorgang ist irreversibel.

Fazit Integrales Denken

Integrales Denken bedeutet, konstruktiv mit den Eigenarten der First-Tier-Stufen umgehen zu können. Integrale Denker sind die ersten, die Komplexität zu nutzen wissen und friedliche Lösungen durch die Verbindung verschiedener Perspektiven anstreben. Allerdings ist Integrales Denken nicht im Einklang mit der Natur, es ist nicht auf der geistigen Ursachenebene, sondern eine höher entwickelte Intellektualität.

Das Problem dabei ist die Anmaßung, zu wissen, wie die Dinge sind oder sein müssen, obwohl man keinen Einblick in die Ursprungsebene des Seins hat. Es ist exakt die Strategie, mit der alle Probleme der Welt geschaffen wurden. Im weiteren Verlauf dieser Serie werden wir diesen Aspekt vertiefen.

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