Von Silke Nierfeld | 10.09.2024 | Lesezeit ca. 10 Minuten
Second-Tier ist schöpferisches Denken
In den östlichen Weisheitstraditionen werden zwei Arten von Denkvermögen (manas) unterschieden: Das begriffliche, konditionierte oder niedere Denken, und das höhere, abstrakte oder schöpferische Denken des ursprünglichen, unwandelbaren Geistes, der von raum-zeitlichen Bedingungen unberührt ist. Dieser Beitrag erklärt die Bedeutung des ursprünglichen Geistes oder Second-Tier Denkens.
Second-Tier ist ein höherer Rang von Bewusstsein
Die Geburt eines neuen, geistigen Menschen wird in den ältesten Texten des Buddhismus und Taoismus beschrieben. In allen Kulturen gibt es Weisheitsschulen und Religionen, die den Menschen zu seinem geistigen Ursprung zurückführen wollen. Dieser Ursprung kann als Gott, Licht oder Liebe bezeichnet werden. Gemeint ist die Schöpferkraft oder das, was die Welt zusammenhält.
Die Entwicklung des Bewusstseins vollzieht sich in drei großen Phasen. Dem ursprünglichen Einheitsbewusstsein oder ozeanischen Bewusstsein folgt die Trennung und Identität als Persönlichkeit. Das dualistische Bewusstsein, in dem sich der Mensch als Einzelwesen identifiziert, ist eine Phase voller Spannungen und Konflikte.
Die De-Identifikation als Einzelwesen führt zu einer Verbundenheit auf einer viel höheren Ebene als das ursprüngliche Einheitsbewusstsein. Dieser Prozess wird durch das Erwachen der Seele eingeleitet. Im Taoismus spricht man davon, das Licht herumzudrehen. Die Aufmerksamkeit wird gewendet, weg von den Gedanken und Inhalten, hin zu ihrer Quelle, dem ursprünglichen Geist.
Die Evolution ist eine Intelligenz von einer solchen Erhabenheit, das verglichen damit das ganze systematische Denken und Handeln des Menschen ein höchst unbedeutender Abglanz ist.
Albert Einstein
Wie funktioniert Second-Tier Denken?
Um das Second-Tier Denken zu verstehen, muss man sich von der Vorstellung lösen, dass Denken im Gehirn stattfindet. Denken findet im Mentalkörper statt. Die Wirklichkeit besteht aus sieben verschiedenen Ebenen oder energetischen Qualitäten. Für jede hat der Mensch einen eigenen Körper, durch den er wahrnimmt und interagiert.
Die Gedanken werden von der Seele (buddhische Ebene) über das mentale Gedankenfeld an das Gehirn übermittelt. Damit ist das jahrtausendealte Leib-Seele-Problem – die Frage, wie Materie und Geist interagieren – philosophisch gelöst.
* Dieses Modell von drei physischen und vier geistigen Ebenen ist im Westen am bekanntesten. Die GĂĽltigkeit anderer Modelle und Klassifikationen wird nicht infrage gestellt.
Das Gehirn ist wie eine Workstation, sein Betriebssystem ist der unkonditionierte (kosmische) Geist und die Seele der Programmierer. FĂĽr diejenigen, die sich von den drei physischen Dimensionen de-identifiziert haben, ist das Bewusstsein eine Einheit, eine Cloud. Es ist ein unendliches, untrennbares, zeitloses und nichtlokales Informationsfeld.
Die Persönlichkeit ist der Bildschirm, auf dem die Ideen der Seele und später der Monade und des Geistes zum Ausdruck kommen sollen. Alle Konflikte, Erschöpfung (Stress) und Verzweiflung (fehlender Lebenssinn) resultieren aus der Illusion der Persönlichkeit, ein autarkes Betriebssystem zu besitzen. Wer sich der Untrennbarkeit alles Lebendigen nicht bewusst ist und sich davon abgrenzt, handelt gegen die Kräfte der Natur – und die eigene Seele.
Man muss sich vergegenwärtigen, dass die Natur nur auf der äußeren physischen Ebene klare Abgrenzungen zulässt und durch Raum und Zeit definiert ist. Die Beschaffenheit der Körper verläuft vom Grobstofflichen über das Subtile (intersubjektiv) zum Kausalen, das untrennbar, nonlokal und zeitfrei ist. Der Mensch interagiert mit allen Ebenen, die Frage ist nur, wie viele davon ihm bewusst sind.
Man mag den Yoga ausĂĽben und Erleuchtungen im Mental und Verstand erlangen; wenn sich aber die Seelenmacht im Hintergrund nicht offenbart, wenn die seelische Natur nicht in den Vordergrund tritt, ist nichts Wahres geschehen.
Sri Aurobindo
Wege zum geistigen Bewusstsein
Das Bewusstsein der göttlichen Einheit hinter der Welt der äußeren Erscheinungen hat zwei Zentren, eins in der Mitte der Brust und eines im Kopf. Für manche ist die mentale Konzentration leichter, für andere die Konzentration im Herzzentrum; einige sind fähig abwechselnd zu arbeiten – aber es ist wünschenswert, mit dem Herzzentrum zu beginnen.
Sri Aurobindo (ein indischer Philosoph, Dichter und spiritueller Lehrer, der eine Synthese aus westlicher und östlicher Philosophie entwickelte) weist darauf hin, dass das Bewusstsein des Menschen durch die Erfahrung des Höheren in der Meditationspraxis zwar bereichert – seine niedere Natur aber nicht gewandelt wird. Das ist eine einleuchtende Erklärung für die große Anzahl von moralischen Verfehlungen, die seit jeher in spirituellen Kontexten anzutreffen sind.
Es kann keine Wandlung ohne das Erwachen des seelischen Wesens geben. Weil die Seele mit ihrem göttlichem Bewusstsein in jedem Menschen vorhanden ist, ist Wandlung möglich. Hingabe ist das hauptsächliche Hilfsmittel sich ihrer bewusst zu werden, denn in diesen Momenten ist man in der Ich-Vergessenheit. Auf dem Seelenweg der Einweihungen wird das Bewusstsein geläutert und in höhere Schwingungsebenen versetzt. Läuterung und Einweihung sind die beiden großen Erfordernisse der Transformation.
Wenn die menschliche Natur beherrscht und das Begehren zurückgewiesen wird, wenn die Persönlichkeit ihren rechtmäßigen Platz als Instrument der Seele eingenommen hat, wird man sich eines inneren Lenkers bewusst, der die Wahrheit kennt, und immer auf das Gute und Schöne ausgerichtet ist. Die innere Führung (göttlicher Wille) tritt in dem Maße hervor, wie das Bewusstsein geläutert wird.
Das Hervortreten der Seele wird von einem Gefühl der Befreiung in den Frieden und in das Glück begleitet; Ihr Streben ist aufrichtiges Selbstgeben. Es ist besser, wenn die Seele aktiv ist, bevor sich der Schleier zwischen dem individuellen und dem universalen Bewusstsein hebt, weil sonst keine Führung da ist. Neben der seelischen Fähigkeit zu bedingungsloser Liebe ist die Entwicklung des Denkvermögens die andere wichtige Komponente des geistigen Bewusstseins.
Die Entwicklung des Denkvermögens
In der östlichen Philosophie wird die implizite Einheit der Wirklichkeit durch die explizite Zweiheit Yin-Yang zum Ausdruck gebracht. Implizit ist auch die Untrennbarkeit der Polaritäten, so dass es keiner dritten Kraft zur Verbindung bedarf. Deshalb spricht man von zwei Denkvermögen (manas), dem illusorisch-fragmentierten und dem ursprünglichen, universellen Denkprinzip.
Die westliche Entsprechung ist die Trinität aus Geist (Wille), Seele (Liebe) und Intelligenz (Form). Dementsprechend lautet die Konzeption, dreifaches Denkvermögen zu entwickeln.
Das konkrete Denken findet im unteren Mentalkörper statt. Der Verstand sammelt Fakten und erwirbt Wissen. Diese Ebene ist von Illusionen und kollektiven Irrtümern durchzogen und vermischt sich mit der Gefühlsebene und ihren Verblendungen.
Durch selbständiges Denken entwickeln sich Intellekt und Vernunftprinzip. In der Phase betonter Intellektualität entstehen viele menschliche Konflikte und ideologische Auseinandersetzungen, die emotionale Spannungen erzeugen. Indem die Fähigkeit erlangt wird, diese Emotionen durch verstehendes Denken aufzulösen, entwickelt sich die Vorstufe zur spirituellen Entwicklung, die Anwartschaft. Das entspricht dem integralen Denken.
Der nächste Entwicklungsschritt ist synthetisierendes Denken. Wer in sich Gegensätzlichkeiten verschmelzen kann, begibt sich auf die geistige Ursprungsebene. Das erleuchtete Denken des Geistes umfasst die göttlichen Ideen. Es wird auf der höheren Mentalebene empfangen, findet aber im Kausalkörper der Seele statt. Für diese Fähigkeit muss die Identifikation als Einzelwesen aufgelöst werden.
Der tatsächliche Sprung zum Second-Tier Denken geschieht, wenn Persönlichkeit und Seele verschmelzen. Es ist die dritte Einweihung auf dem Seelenweg, und die erste in die geistige Wirklichkeit. Bei diesem Schritt findet eine Veränderung statt, für die der Begriff Paradigmenwechsel eine maßlose Untertreibung ist. Man versteht, dass man vorher seine gedanklichen Konstruktionen für die Wirklichkeit gehalten hat, und diese etwas ganz anderes ist. Zu bedauern ist, dass sich die wunderbare, grenzen- und bedingungslose Wirklichkeit nicht in Worte fassen lässt. Sie übersteigt jedes begriffliche Denken, sodass Transformation immer der Aufbruch ins Unbekannte ist.
Was treibt die Transformation an?
Die Transformation zum Second-Tier Denker – ist ein aktiver Prozess der Selbsterkenntnis. Er vollzieht sich nicht auf natürliche Weise, wie die Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen. Unzufriedenheit leitet die zweite Phase ein. Wenn man nach mehr als dem gewöhnlichen Leben strebt, verlieren materielle Vergnügungen ihren Reiz. Wenn Macht, Ruhm und Erfolg nicht die Folge seelischer Verwirklichung sind, nähren sie nur das Ego und die Seele bleibt hungrig. Dann wird die Frage nach dem Sinn des Lebens immer drängender und kann zu schweren Krisen führen.
Ein großes Problem unserer Zeit ist, dass auch die schulmedizinische Auffassung von Psychologie / Psychotherapie das Wesen und Wirken der Seele nicht integriert, sondern sie mit der Psyche gleichsetzt. Die Psyche unterliegt aber der Illusion, ein auf drei Dimensionen beschränktes Einzelwesen zu sein, aus der alle Konflikte entstehen.
Wesentliche Aspekte des Second-Tier-Denkens
Strebe danach zu verstehen, nicht zu wissen, denn im Verstehen endet der dualistische Prozess von Wissendem und Gewusstem.
Jiddu Krishanmurti
Second-Tier bei Spiral Dynamics
Die EntÂwickÂlungsÂtheoÂrie Spiral Dynamics kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Menschheit in einer Spirale von immer komplexeren Weltbildern, den sogenannten Werte-Memen (WMeme), vom First-Tier zum Second-Tier entwickelt.
Die Beschreibung des Second-Tier in der Theorie Spiral Dynamics beruht jedoch nicht auf direkter Erfahrung. Es ist eine Beobachtung, die auf äußeren Erscheinungen beruht. Das ist ungefähr so, als würde ein Kind entscheiden, was es bedeutet erwachsen zu sein, indem es seine Eltern beobachtet. Vermutlich würde es äußern, dass Erwachsensein heißt, nie früh ins Bett zu gehen.
Spiral Dynamics spricht von einer Erweiterung und Verfeinerung der Denkstrukturen durch die Veränderung des Wertesystems. Diese Entwicklung ist nicht zu bestreiten. Der Fehler liegt darin, dass der Begründer der Theorie, Dr. Clare W. Graves die Entwicklung des Intellekts als Second-Tier Denken bezeichnet. Er betitelt die integralen und holistischen Denker seines Modells als erleuchtete, geistig verwirklichte Menschen, obwohl sie den Status eines geistigen Schülers noch nicht erreicht haben.
Das Wesen des Geistigen und seine tatsächliche Funktionsweise sind unverstanden bei Spiral Dynamics; viele Aussagen sind schlicht falsch. Im folgenden Beitrag gehen wir ausführlich darauf ein.
Fazit Second-Tier Denken
Im Second-Tier erkennt man, dass man die Realität für etwas gehalten hat, das nur auf Gedanken beruht. Man verlässt dieses Spiel und sieht es klar als das, was es ist, ohne es jemals wieder mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Die geistige Wirklichkeit muss mit der Seele – statt dem Intellekt – erkannt werden, weil auch diese absolut, unbestimmt und unendlich ist.
Second-Tier Denken ist die gleichzeitige Wahrnehmung der geistigen Ursachenwelt und der materiellen Formwelt durch Intuition. Es ist auf Harmonie, Lebendigkeit und Diversität ausgerichtet. Diese Denkweise vermag die Probleme zu lösen, die durch die linearen Logiken des Intellekts entstanden sind.
Unser holistischer Ansatz ist eine Brücke zwischen Verstand und Second-Tier. Er bietet die Möglichkeit, die geistige Ursachenebene in das Denken und Handeln einzubeziehen, wodurch Diskrepanzen mit der Wirklichkeit – sowohl geschäftlich als auch privat – ausgeschlossen werden. Daraus resultiert die Mühelosigkeit, die die Chinesen Wu-Wei nennen.