Von Silke Nierfeld | 05.11.2024 | Lesezeit ca. 6 Minuten

Der Individuationsprozess nach Carl Gustav Jung

Der Individuationsprozess, von la­tei­nisch indi­vi­du­are sich un­teil­bar / un­trenn­bar machen, beschreibt den Weg eines Menschen zur Verwirklichung seines wahren Selbst. Dieser Prozess führt das Individuum von einer durch gesellschaftliche Normen und persönliche Begrenzungen geprägten Identität hin zu einer authentischen und seelenbewussten Persönlichkeit. In diesem Beitrag wird erläutert, was Individuation bedeutet, wo die größten Schwierigkeiten liegen und welche Bedeutung dieser Prozess für die persönliche Entwicklung hat.

Sprechblasen, die "Ich bin" in vielen Sprachen ausdrücken

Was ist Individuation?

Der Individuationsprozess ist die Auseinandersetzung zwischen dem bewussten, konkreten Ich und dem unbegrenzten Selbst. Da die Grenzen des Bewusstseins nie wirklich klar sind, kann niemand genau sagen, was das Selbst ist. Das Selbst ist das Sein, ein Oszillieren zwischen Bewusstem und Unbewusstem. Eine andere Definition von Sein lautet, dass es das ist, was sich ursprünglich und ewig im Göttlichen befindet.

Durch die Auseinandersetzung mit sich selbst und seinen unbewussten Anteilen kann der Mensch innerlich wachsen und sich vervollkommnen. Das bewusste Ich besteht aus Teilpersönlichkeiten, die sich ihrer Widersprüchlichkeit nicht bewusst sind. Instinkte, Emotionen und Gedanken verfolgen egozentrische Absichten. Weil sie keine gemeinsame Ausrichtung haben, ist das Leben so anstrengend. Wenn das wahre Selbst in den Vordergrund tritt und seine rechtmäßige Führungsrolle ausübt, stellt sich unweigerlich Ausgeglichenheit ein.

Die Bedeutung des Individuationsprozesses

Alles Bewusste war einmal unbewusst. Deshalb ist das Unbewusste die Schatzkammer des Menschen und sein Weg zur Ganzheit. Jede Perspektive, die durch die Integration des Gegenpols transzendiert wird, bringt den Menschen seiner wahren, unbegrenzten oder göttlichen Natur näher, in der alle Möglichkeiten liegen.

Jung unterscheidet nicht zwischen Unbewusstem und Überbewusstem, was verwirrend ist. Das Unbewusste sind Bewusstseinsinhalte, die gegenwärtig nicht zugänglich sind, aber integriert werden müssen. Überbewusst sind die geistigen Dimensionen oder das Second-Tier, die jenseits des Verstandes liegen. Sie können erst erfasst werden, wenn das Denken vom Intellekt zur Seele verlagert wird, was durch den Individuationsprozess gefördert wird.

Obwohl Individuation das Wichtigste für ein gelingendes Leben ist, wird diesem Prozess in unserer Gesellschaft wenig Bedeutung beigemessen. Mitbürger, die kollektiven Strukturen und Werten folgen, sind auch wesentlich leichter zu führen als autarke Menschen.

Einzig das Finden der eigenen inneren Wirklichkeit macht den Menschen unabhängig von der äußeren.

David Kiser

Merkmale des Individuationsprozesses nach C. G. Jung

AufzählungszeichenDie Entwicklung des wahren Selbst ist ein lebenslanger Differenzierungsprozess. Sie bedeutet die Überwindung von Fragmentierung und die Vereinbarung von Gegensätzen. Dabei ist jede Veränderung auf Korrektur angelegt, sie ist vorläufig.

AufzählungszeichenDie Einzigartigkeit des Menschen drückt sich vor allem in seinen Schwierigkeiten aus. Deshalb ist die Annahme seiner selbst – mit seinen Möglichkeiten und Schwierigkeiten – eine Grundtugend, die im Individuationsprozess verwirklicht werden soll.

AufzählungszeichenEin Inhalt kann nur integriert werden, wenn er nicht nur intellektuell erfasst, sondern auch in seinem Gefühlswert verwandelt wurde.

AufzählungszeichenDer Individuationsprozess gibt Antwort auf die Frage: Wer bin ich außer dem, was ich ohnehin von mir weiß? Individuation ist eine Notwendigkeit für das Gelingen der individuellen Lebensaufgabe.

Der Zeitgeist der Individualisierung

Individuation im Sinne Carl Gustav Jungs bedeutet die Suche nach den tieferen Wahrheiten des Selbst. Die Aufmerksamkeit richtet sich nach innen und das Leben wird unabhängig von äußeren Meinungen gestaltet. Der individuierte Mensch ist einzigartig und nichts Besonderes, es ist eine Befreiung vom Egoismus.

Der Zeitgeist fördert das Gegenteil. Soziale Medien dienen der Zurschaustellung der eigenen Person und des eigenen Lebensstils. Der Wunsch, etwas Besonderes zu sein und sich von der Masse abzuheben, macht abhängig von der Meinung anderer – und entfremdet vom eigenen Lebenssinn.

Ganzwerdung ist Heilung

Individuation ist der Prozess, in dem das Bewusste und das Unbewusste eines Individuums lernen, einander zu kennen, zu respektieren und zu akzeptieren. Der bewusste Verstand ist der Überzeugung, bestimmte Inhalte, Eigenschaften und Handlungen vor der Welt verbergen zu müssen.

Das Verbergen ist das eigentliche Übel
. Es kostet Lebensenergie, erzeugt Spaltung und verzerrt die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Weil Inhalte im Verborgenen gehalten werden, sind sie so mächtig. Sobald sie ans Licht kommen, verlieren sie ihren Schrecken.

Ein Mensch, der sich seiner Spaltung nicht bewusst ist, projiziert auf seine Umwelt, was er in sich selbst nicht erkennen oder zulassen kann. Das ist die Wurzel fast aller Konflikte. Der Hass des Menschen richtet sich immer auf das, was ihm seine (eigenen) schlechten Eigenschaften vor Augen führt.

Es geht darum, Abstand zu den eigenen Gedanken und Gefühlen zu gewinnen und sie als das zu sehen, was sie sind: vorübergehende Erscheinungen. Die Durchdringung der eigenen Denkmuster schenkt dem Menschen die Freiheit und das Glück, er selbst zu sein.

Du selbst zu sein in einer Welt, die dich ständig anders haben will, ist die größte Errungenschaft.

Ralph Waldo Emerson

Schwierigkeiten der Individuation

Ein hohes Selbstwertgefühl ist der größte Feind der Individuation, stellte Abraham Maslow fest. Da unsere Gesellschaft Motivation belohnt, andere zu übertreffen, wird Individuation gesellschaftlich untergraben. Es erfordert Mut und Rückgrat, sich Konventionen zu widersetzen und sein wahres Selbst zu verwirklichen.

Selbstwerdung bedeutet nicht, sich selbst zu finden, schließlich ist man kein verlegtes Buch. Es geht auch nicht um Selbstoptimierung, denn das ist eine Verfeinerung vorhandener Qualitäten. Es geht um die Fähigkeit, zwischen mentalen Konzepten und dem, was wirklich ist, zu unterscheiden. Das Wirkliche ist nicht bedingt, es existiert aus sich selbst heraus. Wenn alle Identifikationen als bedingt und wertend – und deshalb nicht wirklich – durchschaut sind, bleibt das Wahre übrig: eine unbegrenzte, zeitlose Seele in einem begrenzten und vergänglichen Körper.

Die Methode der Selbsterkenntnis heißt Neti Neti (nicht dies, nicht das). Indem man die falschen, relativen oder begrenzten Aspekte des Selbst eliminiert, bleibt das wahre Wesen übrig. Menschen sind nicht ihre Körper, Gefühle, Gedanken oder Erfahrungen, sie sind das grenzenlose Bewusstsein dahinter.

Befreit von allen falschen Überzeugungen, wer man zu sein hat oder nicht sein darf, können sich die Potenziale des wahren Selbst entfalten. Es sind ungeahnte Möglichkeiten, die der Persönlichkeit niemals eingefallen wären – denn sie ist nur das Werkzeug der Seele, ihre Ausdrucksform.

Bei allen Herausforderungen, die dieser Prozess mit sich bringt, ist es wichtig, daran zu erinnern, dass es keine Alternative ist, sich nicht zu individuieren. Die Anpassung an kollektive Werte, wie sie in Modellen wie Spiral Dynamics beschrieben werden, bedeutet, sich seines seelischen Wesens nicht bewusst zu werden, und das ist das wahre Scheitern.

Wer unter seinen Möglichkeiten bleibt oder sich anpasst, statt aufzubegehren, wenn sein Inneres missachtet wird, wird zutiefst unglücklich. Nicht gelebtes Leben und die unbeantwortete Frage nach dem Sinn des Lebens erzeugen körperliche und psychische Krankheiten.

Die Seele besteht aus Licht und Liebe und hat dennoch eine einzigartige Schwingung, die man auch Färbung oder Klang nennen kann. Ihre unveränderlichen Strukturen lassen sich durch energetisches Profiling bestimmen. Den Selbstwerdungsprozess Erleuchtung zu nennen ist insofern irreführend, als das Licht schon immer da war; der Prozess ist eine Entdunkelung.

Folgen der Individuation

Der individuierte Mensch hört niemals auf, nach der Wahrheit zu suchen. Sein Reifungsprozess ist im wichtiger als Geld oder Macht. Individuation entwickelt eine geheimnisvolle Kraft, ein tiefes Vertrauen in den inneren Kompass der Seele, dem man bedingungslos folgt.

Individuierte Menschen sind Innovationsbeschleuniger

Menschen, die der Entwicklung ihres Potenzials viel Aufmerksamkeit schenken, sind eine Bereicherung für jede Gesellschaft. Sie schauen über den Tellerrand, entwickeln interdisziplinäre Fähigkeiten und finden Lösungen abseits der ausgetretenen Pfade.

Während normale Menschen am Bewährten festhalten wollen, sind Individualisten jederzeit bereit, das Erreichte loszulassen, um sich auf neue Wege zu begeben.

Fazit Individuation nach Carl Gustav Jung

Individuation ist ein notwendiger Prozess der Selbstwerdung. Er führt den Menschen in die innere Ganzheit und die Erkenntnis der Wirklichkeit – frei von allen mentalen Konstrukten. Durch Individuation wandelt sich die Beziehung zur äußeren Welt. Auf der Seelenebene existieren weder Egoismen, noch Konkurrenz oder Angst. Wer sein seelisches Wesen erkannt hat, versteht, was bedingungslose oder göttliche Liebe ist. Ist der Anfang gemacht, führt der Einweihungsweg in die tiefere Selbsterkenntnis.

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Quellen: CG Jung-Stuttgart, C.G. Jung Die Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Unbewussten