Individuation nach Carl Gustav Jung
Der Individuationsprozess von lateinisch individuare sich unteilbar/untrennbar machen, ist die Entwicklung des Menschen zu etwas Einzigartigem, zu dem Individuum, welches er wirklich ist. Das Zitat Werde, der du bist geht auf den griechischen Dichter Pindar (522 v.Chr. - 445 v.Chr.) zurück und wurde von Jung aufgegriffen. Es meint, erkenne das Potenzial, das in dir steckt.
Die Bedeutung der Individuation
Der Individuationsprozess ist die Auseinandersetzung zwischen dem bewussten, konkreten Ich und dem unbewussten, unbegrenzten Selbst. Weil die Grenzen des Bewusstseins niemals wirklich klar sind, kann auch niemand genau sagen, was das Ich ist. Folglich ist das Lebendige ein Oszillieren zwischen zwei Unbestimmtheiten – und es ist eine kollektive Gesamtheit, die sich individuell manifestiert.
Über die Entdeckung des Individuellen im Kollektiven gelangt der Mensch zur Erkenntnis seines wahren Wesens und seines Lebensinns. Obwohl Individuation das Wesentliche des menschlichen Daseins ist, wird dem Prozess in unserer Gesellschaft wenig Bedeutung zugemessen.
Die Bedürfnispyramide von Maslow, deren Hierarchie das Individuationsbedürfnis weit oben ansiedelt, trägt nicht dazu bei, dass die Bedeutung der Individuation verstanden wird. Leider ist diese Hierarchie so verbreitet wie falsch und wurde von Maslow selbst in dieser Form niemals veröffentlicht. Die Pyramide ist ein Jahrhundertirrtum, ein Missbrauch humanistischer Forschung für die Ökonomisierung des menschlichen Antriebs in Organisationen.
In diesem Beitrag geht es darum zu klären, was Individuation ist – und wie bedeutsam dieser Prozess für ein gelingendes Leben ist.
Du selbst zu sein in einer Welt, die dich ständig anders haben will, ist die größte Errungenschaft.
Ralph Waldo Emerson
Charakteristika des Individuationsprozesses nach C. G. Jung
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Die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit ist ein lebenslanger Differenzierungsprozess. Seine Persönlichkeit zu entwickeln bedeutet, Fragmentierung zu überwinden und Gegensätze zu vereinbaren. Dabei ist jeder Wandel auf Korrigierbarkeit angelegt, er ist vorläufig.
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Eine individuierte Persönlichkeit gibt kein einheitliches Bild ab, sondern ist voller Widersprüche. Um die Widersprüche integrieren zu können, müssen sie erst einmal bewusst werden.
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Die Einzigartigkeit eines Menschen wird insbesondere durch seine Schwierigkeiten ausgedrückt. Deshalb ist das Annehmen von sich selbst – samt den Möglichkeiten und Schwierigkeiten – eine Grundtugend, die im Individuationsprozess verwirklicht werden soll.
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Ein Inhalt kann nur integriert werden, wenn er nicht nur intellektuell erfasst, sondern auch in seinem Gefühlswert transformiert wurde.
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Der Individuationsprozess gibt Antwort auf die Frage Wer bin ich außer dem, was ich ohnehin von mir selber weiß. Individuation ist eine Notwendigkeit für das Gelingen der individuellen Lebensaufgabe.
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Die Individuation zielt auf das Erreichen von mehr Autonomie. Es geht nicht nur darum, sich vom Verhaftetsein an kollektive Werte, Normen und Rollenerwartungen zu lösen. Es geht auch darum, sich vom Verhaftetsein ans Unbewusste zu lösen und mit ihm in Dialog zu treten.
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Der Individuationsprozess ist einerseits ein interner, subjektiver Integrationsvorgang, bei dem der Mensch mehr Seiten von sich selbst kennerlernt. Andererseits ist er ein interpersoneller, intersubjektiver Beziehungsvorgang, denn die Beziehung zum Selbst ist zugleich die Beziehung zum Mitmenschen.
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Unterbleibt die Individuation und wird das Leben stattdessen an kollektiven Maßstäben ausgerichtet, so erzeugt das Unbewusste Symptome (Krankheiten, Krisen) mit der Zielsetzung, eine Veränderung der Lebensumstände zu verursachen, damit die Lebensaufgabe doch noch erreicht werden kann.
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Individuation sollte nicht mit Individualismus verwechselt werden, denn Individualismus ist das absichtliche Hervorheben und Betonen vermeintlicher Eigenarten. Individuation hingegen ist die Herausbildung des Besonderen – jedoch nicht einer gesuchten Besonderheit, sondern einer, die a priori angelegt ist.
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Ein individuierter, ganz gewordener Mensch stellt seine Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit und dient dem Wohle aller in wesentlich höherem Maße, als es ohne die Herausbildung der Eigenarten je möglich gewesen wäre.
Individuation bedeutet: zum Einzelwesen werden, und, insofern wir unter Individualität unsere innerste, letzte und unvergleichbare Einzigartigkeit verstehen, zum eigenen Selbst werden. Man könnte „Individuation“ darum auch als „Verselbstung“ oder als „Selbstverwirklichung“ übersetzen.“
C. G. Jung
Der Zeitgeist der Individualisierung
Individuation im Sinne Carl Gustav Jungs bedeutet das Streben nach den tieferen Wahrheiten des Selbst. Die Aufmerksamkeit wendet sich nach innen und das Leben wird aus den eigenen Wertmaßstäben heraus gestaltet, unabhängig von äußeren Meinungen. Der individuierte Mensch ist einzigartig und nichts besonderes, es ist eine Befreiung vom Egoismus.
Der Zeitgeist der Zurschaustellung der eigenen Person und des Lifestyles ist keine Individuation, sondern die Verhinderung derselben. Der Wunsch, etwas Besonderes zu sein, und sich von der Masse abzuheben, führt zur tieferen Abhängigkeit von den Meinungen anderer und Entfremdung vom eigenen Lebenssinn.
Individuation ist Potenzialentfaltung
Individuation ist der Prozess, durch den das Bewusste und das Unbewusste in einem Individuum lernen, einander zu kennen, zu respektieren und sich gegenseitig zu akzeptieren.
Wo Unwissenheit oder ein gewisses Maß an Blindheit herrscht, füllt die Psyche die leeren Bereiche mit IRGENDWAS aus. Normalerweise ist dieses Etwas ererbt, wird als selbstverständlich angesehen und nicht hinterfragt. Ein Mensch, der sich seiner selbst – seiner inneren Gegensätze nicht bewusst ist, muss zwangsläufig innerlich zerrissen sein und projiziert auf seinen Nächsten, was er in sich selbst nicht erkennen oder zulassen kann.
Die Inhalte dessen, was verborgen und geheim gehalten wird, erscheinen dem bewussten Verstand als unerträglich. Tatsächlich ist das Verbergen das wahre Übel. Es kostet Lebensenergie, erzeugt Spaltung und verzerrt die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Weil die Inhalte im Verborgenen gehalten werden, sind sie so machtvoll. Sobald sie an Tageslicht geholt werden, verlieren sie ihren Schrecken.
Obwohl der Schatten gewöhnlich als negativ wahrgenommen wird, hat er auch positive Eigenschaften. Zum einen sind nicht nur dunkle Aspekte verborgen, sondern auch helle. Zum anderen sind die dunklen Aspekte Ausdruck der natürlichen, menschlichen Ängste. Sich ihrer anzunehmen, weist den Zugang zu vielen positiven Eigenschaften auf wie normale Instinkte, angemessene Reaktionen, realistische Einsichten, kreative Impulse usw.
Indem der Mensch seine inneren Konflikte löst, gelangt er in Harmonie mit der Welt – er wird ganz. Diese Harmonie öffnet den Zugang zum Überwussten, zu den feineren Dimensionen der Wirklichkeit. Die Einheit der Gegensätze ist die Meta-Ebene der Seele. Aus der Seele zu handeln, ist holistisches Denken und die Basis unserer Coachings und Transformationsbegleitung.
Solange du dir das Unbewußte nicht bewusst machst, wird es dein Leben bestimmen und du wirst es Schicksal nennen.
Carl Gustav Jung
Folgen der Individuation
Der individuierte Mensch hört niemals auf nach der Wahrheit zu suchen. Sein Reifungsprozess ist im wichtiger als Geld oder Macht. Individuation entwickelt eine geheimnisvolle Kraft, ein tiefes Vertrauen in die innere Stimme, der man bedingungslos folgt. Diese innere Stimme ist still, man darf sie nicht mit den inneren Stimmen verwechseln, die durch Konditionierung des Verstandes entstanden sind, beispielsweise das schlechte Gewissen.
Weil die innere Führung auf unmittelbarer Wahrnehmung – und nicht auf tradierten Überzeugungen basiert, wandelt sich das Verhalten mit der individuellen Situation. Die Beständigkeit liegt in der Loyaliät zur inneren Führung. Es gibt kein Bestreben, ein konsistentes Bild nach außen abzugeben. Der Individuierte ist nicht korrumpierbar, er lässt sich vor keinen Karren spannen.
Individuierte Mitarbeiter sind Innovationsbeschleuniger
Menschen, die der Entwicklung ihres Potenzials viel Aufmerksamkeit schenken, sind eine Bereicherung für jedes Unternehmen. Sie schauen über den Tellerrand, entfalten interdisziplinäres Können und finden Lösungen außerhalb eingetretener Pfade. Während normale Menschen das Bewährte erhalten möchten, sind die Individuierten jederzeit bereit, das Erreichte loszulassen, um Weiteres anzustreben.
Fazit Individuation nach Carl Gustav Jung
Individuation ist ein notwendiger Prozess der Selbstwerdung. Er verlagert die Konflikte von außen nach innen, wo sie nachhaltig gelöst werden. Daraus resultiert ein tiefe Verbundenheit mit dem Leben, die Fülle des Seins und die Fähigkeit, den eigenen Platz im Leben und im Kosmos zu finden.
Einzig das Finden der eigenen inneren Wirklichkeit macht den Menschen unabhängig von der äußeren.
David Kiser
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Quellen: CG Jung-Stuttgart, Dr. Wischermann, C.G. Jung Die Beziehungen zwischen dem Selbst und dem Unbewussten