Es gibt gute Gründe, dem Verstand nicht zu vertrauen

Der Verstand hat ein Image als objektiver Problemlöser. Tatsächlich hat er zahlreiche Schwachstellen und ist Mittäter bei unerwünschtem Verhalten. Dieser Beitrag beleuchtet, wie man dem Verstand nicht auf den Leim geht.
Was ist eigentlich der Verstand?
Der Verstand ist die Denkkraft eines Menschen, seine Fähigkeit, die Umwelt bewusst wahrzunehmen, zu analysieren und rationale Schlussfolgerungen zu ziehen. Die vorherrschende Meinung, dass rationales Denken sachlich, objektiv und eine den Affekten entgegengesetzte Tätigkeit sei, ist leider Wunschdenken.
Die 10 größten Defizite des Verstandes:
#1 Fragmentierende Sichtweise
Der Verstand ist sich nicht darüber im Klaren, dass er die (prozesshafte, untrennbare) Wirklichkeit auftrennt in Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich. Aus der Fragmentierung resultieren zahlreiche Schwierigkeiten, die mit derselben Denkweise unlösbar sind.
#2 Bedingtheit (pseudo-subjektiv)
Der Verstand weiß nicht, dass seine Gedanken von intersubjektiven Realitäten wie kulturelle, soziale, oder politische Normen geprägt sind. Seine Subjektivität ist in Wahrheit systemisch infiltriert.
#3 Absolutheitsanspruch
Der Verstand ist sich sicher, eine objektive Realität wahrzunehmen. Ihm ist nicht bewusst, dass die Realität aus einer Wechselwirkung zwischen Beobachter und Beobachtetem entsteht. Seine Überzeugtheit von Objektivität hat die Tendenz, andere Sichtweisen herabzusetzen. Fast alle Konflikte entstammen dem Absolutheitsanspruch.
#4 Mechanisierung
Der Verstand bildet Muster und Strukturen, die er stets wiederholt, auch wenn sich die Dinge längst geändert haben. Auf diese Weise wird das Leben monoton und der natürliche Wandel unterdrückt. Die Muster sind größtenteils unbewusst, und damit besonders stark; sie können jede Veränderungsabsicht korrumpieren.
#5 Verschlimmbesserung
Empfindungen werden erst durch die Interpretation des Verstandes zu Gefühlen, sie sind immer gekoppelt. Um negative Gefühle zu vermeiden, möchte der Verstand das Leben steuern und kontrollieren. Das ist nicht nur wahnsinnig anstrengend, es ist kontraproduktiv. Die Natur basiert auf dem Gesetz der Resonanz. Die Ablehnung und Abgrenzungen, die der Verstand vornimmt, erzeugen disharmonische Schwingungen, die Entsprechendes anziehen.
#6 Konflikterzeugung
Der Verstand arbeitet mit vorgefertigten Kategorien von richtig und falsch. Ohne diese Prägungen könnte die Beurteilung im Kontext ganz anders ausfallen. Auch für das eigene Ich entwirft er eine (zu großen Teilen unbewusste) Ordnung, mit nützlichen, gewollten, vorzeigbaren Anteilen und solchen, die verdrängt, abgespalten und auf andere projiziert werden. Ein dauerhaftes Konfliktverhältnis mit der Welt voller Stress, Masken und psychischem Leid ist die Folge.
#7 Selbstsabotage
Der Verstand ist auch ein Angst-Abwehr-Apparat im Dienst des vegetativen Nervensystems, der unbewussten Prozesse im Körper. Seine Rolle ist es, jedes noch so unsinnige oder sabotierende Verhalten zu rationalisieren, statt dem selbstschädigenden Verhalten auf den Grund zu gehen.
#8 Anmaßung
Der Verstand ist tatsächlich davon überzeugt, die Welt ordnen und kontrollieren zu können – und schlimmer noch – zu sollen. Er ist sich seiner Position als Puzzleteil im Kosmos nicht bewusst und errichtet Ordnungen, die nicht im Einklang mit der Natur sind.
#9 Verlagerung in die Zukunft
Der Verstand ist niemals gegenwärtig. Seine Funktionsweise von Ursache-Wirkung-Denken lässt ihn zwischen Vergangenheit und Zukunft hin und herspringen. Er entwirft ideale Zukunftsszenarien, die er schrittweise zu erreichen gedenkt. Weil die Welt so nicht funktioniert, scheitern Change-Prozesse zuverlässig.
#10 Mindf**k
Das Gehirn produziert zwischen 50.000 und 70.000 Gedanken pro Tag, von denen die wenigsten mit der Außenwelt zu tun haben. Der Verstand kann keine Ruhe haben. Frieden und Stille können nur existieren, wenn er schweigt. Die Wirklichkeit erscheint in den Lücken zwischen den Gedanken.
Wenn man nicht gegen den Verstand verstößt, kann man überhaupt zu nichts kommen.
Albert Einstein
Wie kann man den Defiziten des Verstandes begegnen?
Das konkrete Denken des Verstandes gehört zur niederen Mentalebene. Diese Ebene ist mit der Empfindungsebene (Astral) verknüpft, deshalb sind die Gedanken von Wünschen und Gefühlen, Ehrgeiz und egoistischen Zielen gefärbt.
Das hat zur Folge, dass Gedanken nicht rein mental sind und Dinge verkehrt wahrgenommen werden. Beispielsweise werden Gefühle und Emotionen nicht als eigene Schöpfungen erkannt, sondern die Umwelt für sie verantwortlich gemacht. Das konkrete Denken ist von Irrtümern und Illusionen geprägt.
Die Entwicklung des Denkvermögens
Mit zunehmender De-Identifikation von der Gefühlsebene entsteht Entscheidungsfreiheit. Es kann gewählt werden zwischen egozentrischem, zweckmäßigen und profitorientiertem Handeln, oder einem Verhalten, das sich auf die Erkenntnis größerer Zusammenhänge ausrichtet.
Indem sich die Energie ins Mental verlagert, werden abstraktere Bereiche des Lebens verstehbar, die hinter der sichtbaren Welt liegen. Abstrahierendes Denken bemüht sich um das Begreifen von geistigen Zusammenhängen – unabhängig von der eigenen Person oder von persönlichen Vorteilen.
Der entwickelte Intellekt umfasst nicht nur logisches Denken, sondern auch emotionale Intelligenz, künstlerische Kreativität und spirituelles Bewusstsein. Er beinhaltet das Potenzial, neue Ideen zu generieren, Muster zu erkennen und umfassendere Zusammenhänge zu verstehen.
Es gibt nichts, was der Verstand tun kann, was nicht besser in der Unbeweglichkeit und gedankenfreien Stille des Geistes getan werden kann. Wenn der Verstand still ist, bekommt die Wahrheit ihre Chance, in der Reinheit der Stille gehört zu werden.
Sri Aurobindo
Ein weiterer Rang von Bewusstsein
Die Befreiung des Denkvermögens von allen Konditionierungen und Umkehr zur Quelle des Bewusstseins nennt man Second-Tier Denken oder ursprünglicher Geist. Es ist die Ebene des Seins.
Entwicklungsmodelle wie Spiral Dynamics und andere postulieren eine Hierarchie von Denkstrukturen, deren Komplexitätsgrad sich immer weiter steigert. Sie definieren Second-Tier Denken als eine Erweiterung und Verfeinerung der First-Tier Denkstrukturen (Ebene der Selbsterhaltung), die geschieht, wenn sich die Bedingungen der Umwelt entsprechend ändern.
Damit wird ignoriert, dass die Seele das Entwicklungsprinzip des Menschen ist, die immer nach neuen Dimensionen strebt. Sie ist der Impulsgeber für spirituelle Entwicklung und die Transformation zum wahren Selbst von Menschen.
Es hat zu allen Zeiten – und unter allen Bedingungen – Menschen gegeben, die sich von menschlichen zu geistigen Wesen weiterentwickelt haben, worin die wahre Natur des Menschen – und seine Glückseligkeit liegen.
Fazit über den Führungsbedarf des Verstandes
Der Verstand ist ein Werkzeug der Analyse, Konkretisierung und Zerteilung. Er ist außerdem die Instanz der Ich-Zentrierung. Es ist also kein Wunder, dass das rationale Zeitalter von technischem Fortschritt und Mechanisierung geprägt ist, sowie von Stress, Egoismen und Auseinandersetzungen.
Die Verkettung mit der Gefühlsebene ist der größte Schwachpunkt des Verstandes. Zusammen erzeugen sie die Identifikation eines getrennten Ichs, woraus Konflikte und Leid resultieren.
Die Transformation zum wahren Selbst ist der Ausweg aus dem Leid. Die Denklogik, die Fragmentierung verhindert, und zu einem sinnstiftenden und harmonischen Miteinander führt, ist holistisches Denken.